Wie meine Erkenntnis um meine Neurodivergenz mein Leben veränderte
Von Gewitterwolke
13. September 2022

Ich könnte auch sagen: gerettet. Oder transformiert. Das ist alles eine Frage des Blickwinkels. In jedem Fall ist es einer der besten Sachen, die mir je passiert ist: zu verstehen, dass ich einfach anders ticke. Anders als die meisten meiner Mitmenschen. Anders als das, was gemeinhin als „normal“ gilt. Und dass das okay ist. Dass ich so sein soll, weil ich so geboren wurde, weil dieses Anders-Ticken MEIN „normal“ ist.
Ich hatte das Glück, eine für NDs verhältnismäßig entspannte Kindheit gehabt zu haben. Natürlich war nicht alles schön, dennoch hatte ich die letzten Jahre große Mühe, eine plausible Erklärung dafür zu finden, warum ich die Orte meiner Kindheit wie die Pest meide und allgemein ein graues, fades Gefühl bekomme, wenn ich mich zurückerinnere. Ich kam ganz gut durchs Leben, durch die Schule, gutes Abi, konnte die Auslandsaufenthalte verwirklichen, die ich wollte. Dank zahlreicher Privilegien.
Warum also fiel ich regelmäßig in metaphorische Löcher, warum neigte ich so zu Melancholie und warum war da so viel in mir los, was ich mir nicht erklären konnte? Ich hatte das Gefühl, mich nicht wirklich zu kennen und gleichzeitig riesige Angst davor. Ich war grandios darin, kompetent zu wirken und das auch zu glauben. Bis ich nach einem Schicksalsschlag eine Entscheidung traf, die der Anfang vom Ende meiner Maske war.
Am 3. Mai 2018 hatte ich den ersten Ultraschalltermin für unser zweites Baby. Ich war in der 12. Schwangerschaftswoche. Mein Mann konnte mich leider nicht begleiten. Es war ein Wunschbaby und weil die letzten Wochen psychisch für mich kaum erträglich gewesen waren durch depressionsartige Zustände, war ich recht angespannt. Als meine Gynäkologin dann sehr lange sehr still war, wusste ich sofort, was dann kam. Kein Herzschlag. Seit der 9. Woche nicht weiterentwickelt. Es tue ihr sehr Leid. Ist ihr auch passiert. Das kommt leider vor. Ob sie mir einen Termin für eine Ausschabung morgen machen sollte? Damit es schnell rum ist?
Letztlich wartete ich die Geburt ab, in Absprache mit meiner Hebamme. Am 19. Mai wurde unser Kind geboren und beerdigt. Es war eine sehr schöne Geburt. Und es war entscheidend, diese 16 Tage Zeit zu haben, den Tod zu realisieren, Abschied zu nehmen und die Entscheidung zu treffen, diese Gefühle aktiv und bewusst zu durchleben. Durch Beschäftigung mit Psychologie und Begleitung von Kindern in ihren Gefühlen war mir theoretisch nämlich klar, dass es ungesund wäre, meine Gefühle wegzudrücken. Ich ließ mich also bewusst darauf ein. Und öffnete damit, so vermute ich, Tür und Tor für einen dammbruchartigen Einbruch meines echten Seins, das ich so lange in Schach gehalten hatte. Meine neurotypische Maske bekam Risse und ich fiel kilometertief in mein erstes ausgewachsenes autistisches Burnout.
Nach der Geburt ging gar nichts mehr. Ich brach mein Studium kurz vor Schluss ab und war monatelang im Ausnahmezustand. Ich begann eine tiefenpsychologische Therapie, um meine Kindheit aufzuarbeiten. Imagine Dragons und Arno Gruen retteten mich in dieser Zeit. Ich schrieb Gedichte, lernte meine Untiefen kennen, tauchte in tiefenpsychologische Modelle ab. War mir so nah wie noch nie und erlebte Schmerzen wie noch nie. Maria Sanchez, inneres Kind, Beschäftigung mit dem Thema Entwicklungstrauma. Kennenlernen meiner bisher einzigen besten Freundin und das erste Mal im Leben die Erfahrung, komplett verstanden zu werden. Einige Sitzungen Traumatherapie. Sehr effektiv. Dadurch lernte ich, meine dissoziativen Zustände zu erkennen und aktiv da raus zu kommen und sie nicht nur passiv zu ertragen. Ich bekam mehr Kontrolle über mein Leben. Endlich ging es mir besser.
Also begann ich ein neues Studium: Soziale Arbeit. Diesmal war ich wirklich dabei. Und hatte es zu Ende gedacht. Und alles passte: Hochschule, Studieninhalte, die anderen Mitstudierenden, die Dozierenden – alles fühlte sich gut an. Mein dreijähriges Kind ging gerne zur Kita, mein Mann jobbte, endlich war mein Leben so, wie es sein sollte. Also nochmal schwanger geworden, wir wollten nämlich zwei Kinder. Studium lief, Geburt traumhaft (anders als die erste), 4 Monate Babyhoneymoon. Dann verweigerte das große Kind die Kita, sie waren überfordert mit ihm, es kam zu Gewalt, wir nahmen ihn raus, Gespräche brachten nichts. Neue Kita probiert, kein Erfolg. Das Kind geht bis heute nicht zur Kita. Will nur zur Hause sein.
Ich stieß auf das Thema Autismus, weil unser Kind auffällig war. Vieles passte nicht. Doch das Thema kam immer wieder zurück. Es passte doch. Und dann stieß ich auf erwachsene Autist*innen, die auf Youtube erzählten, wie sich Autismus für sie von innen anfühlt. Und welche Mythen alle Bullshit sind. Und holy shit – warum beschreiben die mein Innenleben? Das kann nicht sein. Die haben doch nur nicht begriffen, dass sie eigentlich hochsensibel/hochbegabt/traumatisiert/whatever sind und denken fälschlicherweise, das sei Autismus? Ha! 😀
Über ein Jahr später haben Kind und ich die Diagnose und es ergibt einfach Sinn. Meine Schwierigkeiten, meine Differenzen sind nicht eingebildet, mein Gehirn funktioniert tatsächlich anders als das der Mehrheit. Trotz relativ unbeschwerter Kindheit kann ich traumatisiert sein, weil mich ganz andere Sachen traumatisieren als andere. Natürlich hab ich kein Selbstvertrauen, weil ich mich nie kennenlernen konnte, wie ich wirklich bin. Weil ich so, wie ich wirklich bin, oft auf Abneigung gestoßen bin. Weil ich permanent missverstanden werde. Mein Leben lang hab ich versucht, so zu sein, wie andere mich liebenswürdig finden. Ich hab es nicht immer geschafft, aber ich habe es probiert. Das war die Maske.
Zu wissen, dass ich autistisch und auch anderweitig neurodivergent bin, ist mein Schlüssel zur Selbstakzeptanz. Endlich kann ich mich verstehen und kann endlich nachvollziehen, was bei anderen inwiefern und warum anders ist. Endlich kann ich diese endlose, subtilen Missverständnisse auflösen, zumindest für mich im Kopf, hinterher. Ich, die ich vor allem anderen in erster Linie VERSTEHEN muss, hab endlich eine plausible Erklärung für so vieles in meinem Leben. Die Erleichterung darüber ist nicht in Worte zu fassen. Seit ich mit anderen autistischen Menschen Kontakt habe oder einfach nur ihre Texte lese und ihre Videos schaue, fühle ich mich irgendwo zugehörig; kann ich mir vorstellen, dass ein Leben auf diesem Planeten wirklich erfüllend sein kann und nicht nur eine Pflichtveranstaltung. Endlich kann ich Seiten an mir verstehen, die ich bisher zutiefst widersprüchlich oder unsinnig fand. Endlich hab ich Worte für diese Bedürfnisse, die andere nicht zu haben scheinen. Endlich bin ich nicht mehr allein und endlich bin ich nicht mehr falsch. Jetzt beginnt mein Leben.
heilige zerstörung
ich will wasserfälle spucken
riesige leere becken will ich füllen
mit massen an wasser
massenweise kaltem wasser
aus dem innersten heraus
alles raus
nach außen
nichts in mir halten
alles soll rausbrechen
aus mir
ich will mich vollständig erbrechen
alles gewachsene zerbrechen
raum schaffen
für neue saaten
und diesmal entscheide allein ich
was gepflanzt wird
(2020)
Leben überfließt mich
mit dem ganzen Schmerz
des in der Welt seins.
Welch Glück haben die,
deren tägliche Existenz
keine Mühe ist.
Oder Pech?
Aus meinen täglichen Kämpfen
fließt mein Blut
das mich nährt,
am Leben erhält
und andere nährt.
Ich bin ein Atomkraftwerk.
Stets kurz vor der Explosion,
unnachhaltig,
voller mysteriöser, gefährlicher Energie.
Hoher Wartungsaufwand.
und täglich die Frage:
ist es das wert?
(Juli 2022)