Werft die Werkzeuge der Herrschenden fort: Befreiung vom Pathologieparadigma
Von Nick Walker, PhD
Übersetzt aus dem US-Englischen von Gewitterwolke

Die Originalversion von „Werft die Werkzeuge der Herrschenden fort“ schrieb ich 2011, zusammengepuzzelt aus vielen meiner Posts in privaten autistischen Diskussionsforen online seit 2004. Diese Originalversion wurde 2012 in der Anthologie „Loud Hands: Autistic People, Speaking“ veröffentlicht. Die untenstehende Version ist eine von mir erheblich editierte und verbesserte Version von 2013.
Dieser Essay wurde ursprünglich für eine autistische Leser*innenschaft geschrieben, deshalb richtet er sich in erster Linie an autistische Lesende und konzentriert sich auf die Bedeutung der Ablösung des Pathologieparadigmas durch das Neurodiversitätsparadigma im Kontext des Autismusdiskurses. Dennoch fungiert er als guter Einstieg ins Neurodiversitäts-paradigma für jede*n; meine Leser*innen konnten über die letzten zehn Jahre relativ leicht einiges aus meinen autismusbezogenen Beispielen herausziehen und meine Analysen auf die Diskurse anderer pathologisierter neurokognitiver Stile anwenden.
Auch wenn er mir heute unangenehm klobig erscheint, so bleibt der Essay „Werft die Werkzeuge der Herrschenden fort“ einer der bedeutsameren meiner Texte in Bezug auf seine langfristigen Auswirkungen auf den Diskurs. Die Begriffsbestimmungen des Pathologieparadigmas und des Neurodiversitätsparadigmas, die zum ersten Mal in diesem Text ausformuliert wurden, sind nun integraler Bestandteil der Forschungsdisziplinen Neurodiversity Studies und Critical Autism Studies; beide noch nicht existent, als ich diesen Text schrieb.
Die endgültige, zitierbare Version dieses Essays, sowie ergänzende Hintergrundinformationen und Kommentare, findet sich in meinem Buch Neuroqueer Heresies.
Bitte beachtet, dass meine Pronomen sie/ihr sind, wenn ihr auf meine Arbeit verweist.
In Bezug auf menschliche Neurodiversität ist das global vorherrschende Paradigma heutzutage das Pathologieparadigma, wie ich es nenne. Das langfristige Wohlbefinden und die Selbstermächtigung von Autist*innen und Angehörigen anderer neurokognitiver Minderheiten ist abhängig von unserer Fähigkeit, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen – einen Wechsel vom Pathologieparadigma zum Neurodiversitätsparadigma. Solch ein Wechsel muss innerlich geschehen, innerhalb des Bewusstseins jeder einzelnen Person; zusätzlich braucht es eine aktive Verbreitung in unseren Kulturen.
Was bedeuten nun diese ganzen Begriffe? Was sind diese Paradigmen, von denen ich spreche, und was bedeutet es, einen „Wechsel“ von einem Paradigma zu einem anderen vorzunehmen? Dieser Text ist der Versuch einer Erklärung, in einfacher Sprache, sodass diese Konzepte hoffentlich leicht zugänglich werden.
Was ist ein Paradigma und was ist ein Paradigmenwechsel?
Selbst wenn er euch noch nicht im akademischen Kontext begegnet ist, habt ihr sicherlich bereits den Begriff Paradigma gehört, weil er nervtötend übermäßig im Unternehmensmarketing verwendet wird, um jegliche neue Entwicklung zu beschreiben, für die Leute begeistern werden sollen: Ein neues Paradigma in der kabellosen Technologie! Ein neues Paradigma in der Verkaufsübertreibung!
Wie es ein großartiger spanischer Diplomat einst formulierte: ich denke nicht, dass es bedeutet, was sie denken, dass es bedeutet.
Ein Paradigma ist nicht nur eine Idee oder eine Methode. Ein Paradigma ist eine Zusammenstellung grundlegender Annahmen oder Prinzipien, ein Mindset oder Referenzrahmen, der unsere Art des Denkens und Redens über eine Sache formt. Ein Paradigma formt die Art und Weise, wie wir Informationen interpretieren und bestimmt, welche Fragen wir stellen und wie wir diese stellen. Ein Paradigma ist eine Brille, durch die wir die Wirklichkeit sehen.
Das einfachste und bekannteste Beispiel eines Paradigmenwechsels kommt vermutlich aus der Geschichte der Astronomie: Der Wechsel vom Geozentrischen Paradigma (welches annimmt, dass Sonne und Planeten sich um die Erde drehen) zum Heliozentrischen Paradigma (Erde und einige andere Planeten drehen sich um die Sonne). Als dieser Paradigmenwechsel begann, hatten bereits viele Generationen von Astronom*innen ausführliche Beobachtungen der Planetenbewegungen aufgezeichnet. Doch nun bedeuteten alle Messungen etwas anderes. Alle Informationen mussten aus einer komplett neuen Perspektive aufs Neue ausgelegt werden. Es gab nicht nur neue Antworten für die Fragen – die Fragen selbst waren nun andere. Einst wichtige Fragen wie „Was ist die Umlaufbahn des Merkurs um die Erde?“ stellten sich nun als totaler Unsinn heraus, während andere Fragen auf einmal an Bedeutung gewannen, die unter dem alten Paradigma nie gefragt worden wären, weil sie unsinnig erschienen.
Dies ist ein echter Paradigmenwechsel: ein Wandel unserer Grundannahmen; ein radikaler Perspektivwechsel, der uns zwingt, unsere Begriffe neu zu definieren, unsere Sprache neu abzustimmen, unsere Fragen neu zu formulieren und unsere basalen Konzepte und Ansätze vollständig neu zu denken.
Das Pathologieparadigma
Ein Paradigma kann häufig auf einige wenige basale, allgemeine Prinzipien heruntergebrochen werden, obwohl diese Prinzipien tendenziell weitreichende Auswirkungen und Konsequenzen haben. Die Prinzipien eines so umfassend dominierenden soziokulturellen Paradigmas (wie es das Pathologieparadigma ist) treten gewöhnlich als Annahmen auf – das heißt, sie sind so selbstverständlich, dass die meisten Menschen sie nie bewusst reflektieren oder aussprechen (manchmal kann es eine verstörende Offenbarung sein, sie klar ausgesprochen zu hören).
Das Pathologieparadigma lässt sich letztlich auf nur zwei Grundannahmen herunterbrechen:
- Es gibt eine „richtige“, „normale“, oder „gesunde“ Bau- und Arbeitsweise des menschlichen Gehirns und Geists (oder eine relativ schmale „normale“ Spanne, in die die Bau- und Arbeitsweisen des menschlichen Gehirns und Geists fallen sollten).
- Wenn deine neurologische Bau- und Arbeitsweise (und daraus resultierend auch deine Denk- und Verhaltensweisen) substanziell vom vorherrschenden „normalen“ Standard abweichen, dann stimmt etwas nicht mit dir.
Durch diese zwei Annahmen definiert sich das Pathologieparadigma. Verschiedene Gruppierungen und Individuen gründen sich auf diesen Annahmen auf sehr verschiedene Weisen, mit variierenden Graden an Rationalität, Absurdität, Angst oder Mitgefühl – doch solange sie diese zwei Grundannahmen teilen, agieren sie immer noch innerhalb des Pathologieparadigmas (genauso wie die alten Maya-Astronom:innen und Islamische Astronom*innen im 13. Jh. sehr verschiedene Vorstellungen vom Kosmos hatten, jedoch beide innerhalb des geozentrischen Paradigmas agierten).
Die psychiatrischen Institutionen, die Autismus als „Störung“ klassifizieren; der „Autismusverein“, der Autismus eine „weltweite Gesundheitskrise“ nennt; Autismusforscher*innen, die ständig mit neuen „Verursachungstheorien“ daherkommen; wissenschaftlich ungebildete Aluhutträger*innen, die Autismus für eine Form von „Vergiftung“ halten; jede Person, die über Autismus mit medizinischer Sprache spricht, wie „Symptom“, „Behandlung“ oder „Epidemie“; die Mutter, die glaubt, der beste Weg, ihrem autistischen Kind zu helfen ist, es behavioristischen „Interventionen“ auszusetzen mit dem Ziel, es so zu dressieren, dass es sich wie ein „normales“ Kind verhält; die „inspirierende“ autistische Berühmtheit, die anderen Autist:innen den Rat gibt, das Erfolgsgeheimnis sei, seine Bemühungen zur Anpassung an die sozialen Anforderungen von Nicht-Autist:innen zu verstärken…. Alle diese Gruppierungen und Individuen agieren innerhalb des Pathologieparadigmas, egal welche Absichten dahinterstehen, egal wie sehr sie vielleicht in einigen Punkten unterschiedlicher Meinung sind.
Das Neurodiversitätsparadigma
Folgendermaßen würde ich die grundlegenden Prinzipien des Neurodiversitätsparadigmas formulieren:
- Neurodiversität – die Vielfalt an Gehirnen, Nervensystemen, minds – ist eine natürliche, gesunde und wertvolle Form menschlicher Diversität.
- Es gibt keine „normale“ oder „richtige“ Beschaffenheit des menschlichen Verstands, genauso wenig wie es keine „normale“ oder „richtige“ Ethnizität, Gender oder Kultur gibt.
- Die gesellschaftlichen Dynamiken in Bezug auf Neurodiversität ähneln den gesellschaftlichen Dynamiken in Bezug auf andere Formen menschlicher Vielfalt (z.B. ethnische, kulturelle, geschlechtliche oder sexuelle Vielfalt). Diese Dynamiken beinhalten die Dynamiken von gesellschaftlichen Machtbeziehungen – soziale Ungleichheit, Privilegien und Unterdrückung – sowie die Dynamik von wertgeschätzter Vielfalt als Quelle kreativen Potenzials innerhalb einer Gruppierung oder Gesellschaft.
Die Werkzeuge der Herrschenden werden niemals das Haus der Herrschenden zerlegen
Bei einer internationalen feministischen Konferenz im Jahr 1979 hielt die Dichterin Audre Lorde eine Rede mit dem Titel „Die Werkzeuge der Herrschenden werden niemals das Haus der Herrschenden zerlegen“. In dieser Rede geißelte Lorde, eine Schwarze lesbische Frau aus einer Einwandererfamilie der Arbeiterklasse, ihr fast vollständig weißes und wohlhabendes Publikum für das Verhaftetbleiben in den grundlegenden Dynamiken des Patriarchats, sowie für dessen kontinuierlicher Weiterverbreitung: Hierarchie, Ausschluss, Rassismus, Klassismus, Homophobie, fehlendes Bewusstsein für Privilegien, und Scheitern bei der Akzeptanz von Vielfalt. Lorde erkannte, dass Sexismus Teil eines größeren, tiefverwurzelten Paradigmas war, welches für den Umgang mit jeglichen Unterschieden stets Dominanzhierarchien errichtete, und ihr war klar, dass ernsthafte und weitreichende Befreiung unmöglich war, solange Feminist*innen weiterhin innerhalb dieses Paradigmas agierten.
„Was bedeutet es,“ fragte Lord, „wenn die Werkzeuge eines rassistischen Patriarchats verwendet werden, um die Früchte dieses selben Patriarchats zu untersuchen? Es bedeutet, dass nur die allerkleinsten Menge an Veränderungen möglich und erlaubt ist. […] Denn die Werkzeuge der Herrschenden werden nie das Haus der Herrschenden zerlegen. Sie helfen uns vielleicht zeitweise, die Herrschenden bei ihrem eigenen Spiel zu besiegen, doch sie werden uns nie die Möglichkeit geben, ernsthafte Veränderungen zu erreichen.“
Die Werkzeuge der Herrschenden werden nie das Haus der Herrschenden zerlegen. Innerhalb eines Systems zu arbeiten, sich an seine Regeln zu halten, verstärkt unausweichlich dieses System, egal ob beabsichtigt oder nicht. Nicht nur wird das Haus der Herrschenden niemals mit ihren eigenen Werkzeugen zerlegt werden, des Weiteren wirst du jedes Mal, wenn du die Werkzeuge der Herrschenden für irgendetwas benutzen willst, letztlich doch wieder nur eine Erweiterung dieses verflixten Hauses bauen.
Lordes Warnung lässt sich genauso gut auf die heutige Zeit anwenden, auf die autistische Community und unseren Kampf für Selbstermächtigung. Die Annahme, dass etwas nicht mit uns stimmt ist von sich aus entmächtigend und diese Annahme ist absolut wesentlich für das Pathologieparadigma. Die „Werkzeuge“ des Pathologieparadigmas (damit meine ich alle Strategien, Ziele oder Sprech- und Denkweisen, die explizit oder implizit den Annahmen des Pathologieparadigmas Glauben schenken) werden uns langfristig nie ermächtigen. Wirkliche, anhaltende, weitreichende Selbstermächtigung für Autist*innen kann nur erreicht werden durch ein Umsetzen und Verbreiten des Wechsels vom Pathologieparadigma zum Neurodiversitätsparadigma. Wir müssen die Werkzeuge der Herrschenden fortwerfen.
Die Sprache der Pathologie versus die Sprache der Vielfalt
Weil das Pathologieparadigma nun seit einer Weile dominiert, verwenden viele Menschen, selbst diejenigen, die behaupten, für die Selbstermächtigung autistischer Menschen einzutreten, aus Gewohnheit eine Sprache, die auf Annahmen eben dieses Paradigmas beruht. Der Wechsel vom Pathologieparadigma zum Neurodiversitätsparadigma benötigt einen radikalen Wandel in der Sprache, da sich eine für medizinische Probleme angemessene Sprache doch ziemlich von einer Sprache unterscheidet, die dem Sprechen über Diversität gerecht wird. Das Problem der „Mensch-zuerst-Sprache“ ist ein gutes Startbeispiel.
Wenn eine Person medizinische Beschwerden hat, können wir sagen „sie hat Krebs“ oder sie „ist ein Mensch mit Allergien“ oder „sie leidet an einem Geschwür“. Doch wenn eine Person zu einer historisch marginalisierten Gruppierung gehört, sprechen wir über ihre Identität nicht wie über eine Krankheit. Wir sagen „sie ist Schwarz“ oder „sie ist lesbisch“. Wir verstehen, dass es ungeheuer unangemessen wäre – und uns vermutlich auch als unwissend und borniert dastehen lassen würde – wenn wir in Bezug auf eine Schwarze Person sagten, sie „hätte Negroismus“ oder sie sei ein „Mensch mit Negroismus“; oder wenn wir sagten, jemand „leide an Homosexualität“.
Wenn wir also Ausdrücke wie „Mensch mit Autismus“ verwenden oder „sie hat Autismus“ oder „von Autismus betroffene Familien“, benutzen wir die Sprache des Pathologieparadigmas – eine Sprache, die implizit die Auffassung von Autismus als intrinsisch problematisch akzeptiert und verstärkt, im Sinne eines etwas stimmt nicht mit dir.
In der Sprache des Neurodiversitätsparadigmas sprechen wir jedoch über Neurodiversität genauso wie wir über ethnische und sexuelle Vielfalt sprechen würden, und wir sprechen über Autist*innen genauso wie wir über jede andere soziale Minderheit sprechen würden: Ich bin autistisch. Ich bin Autist*in. Ich bin eine autistische Person. In meiner Familie gibt es autistische Menschen.
Diese sprachlichen Unterscheidungen mögen trivial erscheinen, doch unsere Sprache spielt eine Schlüsselrolle in der Formung unserer Gedanken, Wahrnehmungen, Kulturen und Realitäten. Langfristig hat die Art der Sprache, mit der über Autist*innen gesprochen wird einen enormen Einfluss darauf, wie die Gesellschaft uns behandelt und auf die Botschaften, die wir über uns verinnerlichen. Uns in einer Sprache zu beschreiben, die das Pathologieparadigma untermauert, bedeutet die Werkzeuge der Herrschenden zu benutzen (um mit Audre Lordes Metapher zu sprechen) und uns somit immer tiefer im Haus der Herrschenden einzusperren.
Ich glaube nicht an normale Menschen
Das Konzept eines „normalen Gehirns“ oder einer „normalen Person“ hat genauso wenig objektive wissenschaftliche Gültigkeit – und dient auch keinem besseren Zweck – als das Konzept einer „Herrenrasse“. Von all den Herrschaftswerkzeugen (z.B. die Dynamiken, Sprache und Rahmenkonzepte, die soziale Ungleichheiten erschaffen und erhalten) ist das mächtigste und heimtückischste das Konzept vom „normalen Menschen“. Im Kontext menschlicher Vielfalt (ethnische, kulturelle, sexuelle, neurologische oder jede andere Art) eine bestimmte Gruppe als die „normale“ oder Standardgruppe zu behandeln dient unausweichlich der Begünstigung/Privilegierung dieser Gruppe und der Marginalisierung derjenigen, die nicht zu dieser Gruppe gehören.
Die zweifelhafte Annahme, dass es so etwas wie einen „normalen Menschen“ gibt, befindet sich an der Wurzel des Pathologieparadigmas. Das Neurodiversitätsparadigma erkennt hingegen in Hinblick auf menschliche Vielfalt „normal“ nicht als valides Konzept an.
Heutzutage verstehen die meisten einigermaßen gut gebildeten Menschen bereits, dass das Konzept von „Normalität“ im Kontext ethnischer und kultureller Diversität absurd und bedeutungslos ist. Die Han-Chinesen sind die größte ethnische Gruppe der Welt, aber es wäre lächerlich zu sagen, deswegen wäre Han-chinesisch die „natürliche“ oder „vorgegebene“ menschliche Ethnizität. Die Tatsache, dass ein zufällig ausgewählter Mensch statistisch viel wahrscheinlicher Han-chinesisch ist als irisch, macht den Han-Chinesen nicht „normaler“ als eine irische Person (was auch immer das bedeuten würde).
Die heimtückischste Art sozialer Ungleichheit und zugleich die Privilegiensorte, die am schwierigsten anzufechten ist, entsteht, wenn eine vorherrschende Gruppe als so „normal“ oder „maßgebend“ gilt, dass sie keinen bestimmten Namen trägt, nicht bezeichnet wird. Mitglieder dieser Gruppe werden einfach als „normale Menschen“, „gesunde Menschen“ oder einfach nur „Menschen“ gesehen – mit der Folge, dass diejenigen, die keine Mitglieder dieser Gruppe sind, Abweichungen vom Normalen und Natürlichen darstellen, anstatt gleichermaßen natürliche und legitime Manifestationen menschlicher Vielfalt.
Als Beispiel kann der Beiklang dieses Satzes dienen: „Schwule und lesbische Menschen wollen die gleichen Rechte wie heterosexuelle Menschen.“ Im Kontrast dazu dieser Satz: „Schwule und lesbische Menschen wollen die gleichen Rechte wie normale Menschen.“ Einfach indem das Wort heterosexuell durch normal ersetzt wird, zementiert der zweite Satz implizit heterosexuelle Privilegien und verweist lesbische und schwule Menschen auf einen unterlegenen, „abnormalen“ Status.
Stellt euch jetzt vor, Begriffe wie hetero(sexuell) und straight existierten gar nicht. Das würde LGB(T)-Rechts-Aktivist*innen in die Position bringen, Dinge zu sagen wie „Wir wollen die gleichen Rechte wie normale Menschen“ – diese Sprechweise würde ihren „abnormalen“ Randgruppenstatus verstärken und somit ihren Kampf untergraben. Sie hätten einzig und allein die Werkzeuge der Herrschenden. Gäbe es Begriffe wie hetero(sexuell) und straight nicht, müssten LGB(T)-Rechts-Aktivist*innen sie erfinden.
Deswegen war die Prägung des Begriffs neurotypisch ein solch wesentlicher erster Schritt der Neurodiversitätsbewegung. Neurotypisch verhält sich zu autistisch wie straight zu schwul/lesbisch/gay. Die Existenz des Wortes neurotypisch gibt uns die Möglichkeit, über Themen wie neurotypische Privilegien zu sprechen. Neurotypisch ist ein Wort, mit dem wir über Mitglieder der vorherrschenden neurologischen Gruppe sprechen können, ohne implizit ihre privilegierte Position zu verstärken (und unsere eigene Marginalisierung), indem wir sie „normal“ nennen. Das Wort normal, welches der Begünstigung mancher Menschen gegenüber anderen, ist ein Werkzeug der Herrschenden; das Wort neurotypisch hingegen ist eins unserer Werkzeuge – ein Werkzeug, dass wir an Stelle des Werkzeuges der Herrschenden benutzen können; ein Werkzeug, dass uns helfen kann, das Haus der Herrschenden zu zerlegen.
Vokabular der Neurodiversität
Das Wort neurotypisch ist ein essentieller Teil des neuen Neurodiversitätsvokabulars, dass sich gerade beginnt herauszubilden – das sich herausbilden muss, wenn wir uns von der entmächtigenden Sprache des Pathologieparadigmas befreien wollen und wenn wir das Neurodiversitätsparadigma erfolgreich in unser eigenes Denken sowie in den öffentlichen Diskurs hineintragen wollen.
Der Begriff Neurodiversität selbst ist natürlich der wesentlichste Teil dieses neuen Vokabulars. Die Essenz des gesamten Paradigmas – das Verständnis von neurologischer Variation als eine natürliche Form menschlicher Vielfalt – passt in dieses eine Wort.
Ein anderes nützliches Wort ist Neurominderheit. Neurotypische Menschen sind die Mehrheit; autistische Menschen und Legastheniker*innen sind Beispiele für Neurominderheiten. Ich würde mich über eine weitverbreitete Nutzung des Begriffs Neurominderheit freuen, denn es gibt einen Bedarf dafür; im Neurodiversitätsdiskurs gibt es viele Themen, über die wir viel einfacher sprechen können, wenn wir ein gutes, nicht-pathologisierendes Wort für die verschiedenen Gruppen haben, die nicht neurotypisch sind.
Begriffe wie Neurodiversität, neurotypisch und Neurominderheit ermöglichen uns, über Neurodiversität auf eine Weise zu sprechen und darüber nachzudenken, die nicht implizit Angehörige von Neurominderheiten pathologisiert. Im Zuge des Kultivierens unserer autistischen Community und der Interaktion mit anderen Neurominderheiten und ihren Communities, während wir immer weiterschreiben und Diskussionen zu für uns relevanten Themen anstoßen, wird neue Sprache hervorgebracht werden. Wir haben bereits Begriffe wie Stim oder laute Hände (loud hands) entwickelt, um wichtige Aspekte des autistischen Erlebens zu beschreiben. Und schließlich begann ich in meiner eigenen akademischen Arbeit durch meine Studien über interkulturelle Kompetenz (die Fähigkeit, mit Menschen verschiedener Kulturen fachkundig zu interagieren und kommunizieren) den Begriff Neurokosmopolitismus zu verwenden, der hoffentlich weite Verbreitung finden wird.
Ich hoffe auch, dass sich die Begriffe Neurodiversitätsparadigma und Pathologieparadigma durchsetzen und weitflächig Verwendung finden werden. Im Sinne der Klarheit ist es sinnvoll, zwischen Neurodiversität (das Phänomen menschlicher neurologischer Vielfalt) und dem Neurodiversitätsparadigma (das Verständnis von Neurodiversität als natürlicher Ausdruck menschlicher Vielfalt, den gleichen Gesellschaftsdynamiken unterworfen wie andere Formen von Vielfalt) zu differenzieren. Und eine Bezeichnung für das Pathologieparadigma zu haben lässt uns dieses Paradigma viel leichter besprechen, erkennen, anfechten und dekonstruieren – und letztlich zerlegen.
Worte sind Werkzeuge. Sowie wir verstehen, dass die Werkzeuge der Herrschenden das Haus der Herrschenden niemals zerlegen werden, bauen wir unsere eigenen Werkzeuge, die uns nicht nur helfen, das Haus der Herrschenden zu zerlegen, sondern ein neues Haus zu bauen, in dem wir bessere, ermächtigtere Leben leben können.
Außenposten im Kopf
Es bricht mir das Herz, wenn so viele der Autist*innen, die ich treffe, von sich selbst in der Sprache des Pathologieparadigmas sprechen und denken, und wenn ich sehe, wie sie das ihrer Macht beraubt und sie eine schlechte Meinung von sich haben lässt. Ihr Leben lang haben sie die toxischen Botschaften von Verfechtern des Pathologieparadigmas gehört, die sie akzeptiert und verinnerlicht haben und nun in Endlosschleife im Kopf wiederholen.
Wenn wir erkennen, dass die Kämpfe von Neurominderheiten größtenteils denselben Dynamiken folgen wie die Kämpfe anderer Minderheiten, können wir diese Selbstpathologisierungen einstufen als Manifestation eines Problems, das Angehörige vieler Minderheiten stets belastete – ein Phänomen namens internalisierte Unterdrückung.
Die Feministin und Journalistin Sally Kempton, eine Zeitgenossin Audre Lordes, sagte Folgendes über internalisierte Unterdrückung: „Es ist schwer, einen Feind zu bekämpfen, der Außenposten in deinem Kopf hat.“
Die Befreiung vom Haus der Herrschenden beginnt mit dem Zerlegen der Hausteile in unseren eigenen Köpfen. Und dieser Prozess beginnt, indem wir die Werkzeuge der Herrschenden wegwerfen, sodass wir aufhören, unbeabsichtigt das zu bauen, was wir zu zerlegen versuchen.
Die Werkzeuge der Herrschenden wegwerfen
Wenn wir einmal erkannt haben, dass die Grundlage des Pathologieparadigmas – die fiktive Idee von „normalen Menschen“ – ein fundamentaler Bestandteil des Werkzeugkoffers der Herrschenden ist, wird es viel leichter, die Werkzeuge der Herrschenden zu identifizieren und sie loszuwerden. Alles was wir tun müssen, ist über unsere Worte, Konzepte, Gedanken, Überzeugungen und Sorgen sorgfältig Bilanz zu ziehen und zu prüfen, ob diese immer noch Sinn ergeben ohne eine Vorstellung von „Normalität“, dem Konzept, dass es eine „richtige“ Art gibt, wie menschliche Gehirne und Denkweisen funktionieren.
Wenn wir einmal die Idee von „Normalität“ fortgeworfen haben, sind neurotypische Menschen nur Angehörige einer Mehrheit – nicht gesunder oder „richtiger“ als der Rest von uns, nur häufiger. Autistische Menschen sind dann eine Minderheit, genauso wenig intrinsisch „gestört“ wie jede ethnische Minderheit auch. Wenn uns klar wird, dass „Normalität“ nur eine Erfindung einiger Leute ist, wenn wir sie als eines der Werkzeuge der Herrschenden erkennen und aus dem Fenster schmeißen, dann fliegt die Vorstellung von Autismus als „Störung“ mit aus dem Fenster. Gestört im Vergleich zu welcher Ordnung genau, wenn wir uns der Idee verweigern, dass es eine bestimmte „normale“ Ordnung gibt, an die sich alle Köpfe anpassen sollten?
Ohne den fiktiven Bezugspunkt der „Normalität“ werden Funktionslabel – „hochfunktionaler Autismus“ und sogenannter „schwerer (low-functioning = niedrigfuntional) Autismus“ – als absurde Fiktionen enttarnt. Hochfunktional oder niedrigfunktional im Vergleich zu was? Wer darf entscheiden, wie ein irgendein Individuum ordentlich „funktioniert“?
Im Pathologieparadigma wird die neurotypische Denkweise emporgehoben als das „normale“ Ideal, an denen alle anderen Denkweisen gemessen werden. „Niedrigfunktional“ bedeutet eigentlich „weit entfernt davon, als neurotypisch durchzugehen, weit davon entfernt die Dinge zu tun, die Menschen aus neurotypischer Sicht tun können sollten, und weit davon entfernt, in einer Gesellschaft aufzublühen, die von neurotypischen für neurotypische Menschen gemacht ist“. „Hochfunktional“ bedeutet „geht fast als neurotypisch durch“. Sich selbst als „hochfunktional“ zu beschreiben heißt, die Werkzeuge der Herrschenden zu benutzen, dich im Haus der Herrschenden einzumauern – ein Haus, in dem neurotypische Menschen das Ideal sind, an dem du gemessen werden sollst, ein Haus, in dem neurotypische Menschen immer oben sind und wo „höher“ „mehr wie sie“ bedeutet.
Von der Grundannahme ausgehend, dass neurotypische Menschen „normal“ sind und autistische Menschen „gestört“, wird ein schlechter Kontakt zwischen neurotypischen und autistischen Menschen zwangsläufig einem autistischen „Fehler“ oder „Defizit“ angelastet. Wenn eine autistische Person eine neurotypische nicht verstehen kann, dann weil Autist*innen zu wenig Empathie haben und in ihrer Kommunikation beeinträchtigt sind; Wenn eine neurotypische Person eine autistische nicht verstehen kann, dann weil Autist*innen zu wenig Empathie haben und in ihrer Kommunikation beeinträchtigt sind. All die Reibungen und Misserfolge im Kontakt zwischen diesen beiden Gruppen, all die Schwierigkeiten, mit denen autistische Menschen in einer neurotypischen Gesellschaft konfrontiert werden, alle werden sie dem Autismus angelastet. Doch sobald unsere Sicht nicht mehr von der Illusion von „Normalität“ vernebelt ist, können wir diesen Doppelstandard erkennen und sehen/verstehen, dass er auch nur eine Manifestation des Privilegs und der Macht ist, die dominante/vorherrschende Mehrheiten so häufig gegenüber allen möglichen Minderheiten ausüben.
Ein Leben jenseits des Pathologieparadigmas
Für einen Paradigmenwechsel, wie ihr euch vielleicht erinnert, ist es nötig, alle Daten durch die Brille des neuen Paradigmas erneut zu interpretieren. Wenn du die Grundannahmen des Pathologieparadigmas ablehnst und die Annahmen des Neurodiversitätsparadigmas akzeptierst, dann zeigt sich, dass du letztlich gar keine Störung hast. Es zeigt sich, dass du vielleicht genauso funktionierst, wie du funktionieren sollst, und dass du einfach nur in einer Gesellschaft lebst, die noch nicht aufgeklärt genug ist, um Menschen, die wie du funktionieren, effektiv entgegenzukommen und sie zu integrieren. Und dass die Schwierigkeiten in deinem Leben vielleicht nicht das Ergebnis einer Fehlerhaftigkeit in dir waren. Und dass dein wahres Potential unbekannt ist und von dir erkundet werden darf. Und dass du vielleicht, tatsächlich, wunderschön bist.