Neurotypische Psychotherapeut*innen und autistische Klient*innen

Von Nick Walker, PhD

Übersetzt aus dem US-Englischen von Gewitterwolke

 

 

Photo by Sigmund on Unsplash

Ich schrieb diesen Text im Herbst 2014. Seit 2010 bin ich Fakultätsmitglied der California Institute of Integral Studies, eine Hochschule, die für ihr hervorragende Masterstudiengänge in beratender Psychotherapie bekannt ist. Die meisten meiner Masterstudierenden in meinen Seminaren werden zu Psychotherapeut*innen ausgebildet und viele der Studierenden in meinen Bachelorseminaren tendieren auch in diese Richtung.

2014 entstand Interesse an meiner Arbeit, hauptsächlich weil die Essays auf meiner Webseite in sozialen Medien geteilt und diskutiert wurden, auch jenseits der autistischen Community und ich erhielt Beratungsanfragen von Psychotherapeut*innen und anderen Fachkräften. Ich besetzte eine ungewöhnliche Nische als jemand, der sowohl autistisch war als auch Fachwissen im Bereich der Psychotherapie besaß (heutzutage gibt es mehr Menschen als damals, die diese Nische mit mir teilen, wenn auch noch nicht so viele, wie ich mir zukünftig erhoffe). Einige der Fachleute, die mich kontaktierten, ermutigten mich, einige Richtlinien für die Arbeit mit autistischen Klient*innen aufzuschreiben.

 Was mich letztlich dazu gebracht hat, so etwas zu schreiben, war eine Email von Sarah Coenen und Helen Cha-Choe, zwei Masterstudierenden für beratende Psychotherapie am California Institute of Integral Studies. Ich kannte sie nicht persönlich, doch die beiden besuchten ein Forschungsmethodenseminar meines Freundes und Kollegen Eri Çela. Für ihr Seminarabschlussprojekt wollten sie die Einstellungen neurotypischer Psychotherapeut*innen gegenüber autistischen Klient*innen erforschen und wie diese Einstellungen die Qualität ihrer Arbeit mit diesen Klient*innen beeinflussen. Mein Kollege schickte sie zu mir. Auf meiner Webseite lasen sie „Werft die Werkzeuge der Herrschenden fort“ und „Neurodiversity: Some Basic Terms & Definitions“; anschließend kontaktierten sie mich für ein paar weiterführende Fragen.

 Ich freute mich zu sehen, dass ihr Projekt im Neurodiversitätsparadigma verankert war. Sarah und Helen hatten erkannt, dass die Fähigkeit einer nicht-autistischen Fachkraft, gut mit autistischen Menschen zu arbeiten, eine Form von kultureller Kompetenz ist und dass das Pathologieparadigma solch eine Kompetenz verhinderte und herablassende und unempathische Einstellungen gegenüber autistischen Klient*innen erzeugte. Ihr klares Verständnis des Themas und ihre ausgezeichneten Fragen inspirierten mich zu langen Antworten. Nach dem Schreiben dieser Antworten bemerkte ich, dass ich endlich den Rat für Fachkräfte geschrieben hatte, um den ich gebeten worden war.

 Die endgültige, zitierbare Version dieses Essays findet sich in meinem Buch Neuroqueer Heresies.

 Bitte beachtet, dass meine Pronomen sie/ihr sind, wenn ihr auf meine Arbeit verweist

Frage: Wie würdest du Empathiedefiziten und mangelhaften Kommunikationsfähigkeiten bei neurotypischen Menschen begegnen, die mit autistischen Klient*innen arbeiten?

Der Politikwissenschaftler Karl Deutsch (20. Jahrhundert) sagte: „Macht ist die Wahlfreiheit, nichts hinzulernen zu müssen.“

Diese Aussage zitiere ich häufig, weil sie aus meiner Sicht einer der wichtigsten Wahrheiten ist, die jemals über Privilegien, Unterdrückung und soziale Machtbeziehungen ausgesprochen wurde.

Wenn ein Gesellschaftssystem so aufgestellt ist, dass eine bestimmte Gruppe fast immer gesellschaftliche Macht oder Privilegien gegenüber einer anderen Gruppe hat, dann müssen die Angehörigen der privilegierten Gruppe nie wirklich Empathie oder Verständnis gegenüber der entmächtigten, unterdrückten Gruppe erlernen und anwenden. Genauso wenig müssen die Angehörigen dieser privilegierten Gruppe lernen, sich an den Kommunikationsstil der unterdrückten Gruppe anzupassen.

Neurotypisches Privileg bedeutet, dass neurotypische Menschen, die mit autistischen Menschen interagieren – besonders wenn diese neurotypischen Menschen in einer Autoritätsposition sind – den Luxus haben, nie ihre eigenen Empathiedefizite und mangelnden Kommunikationsfähigkeiten anzuschauen oder gar einzuräumen, denn sie können alles Scheitern bei Empathie, Verständnis und Kommunikation den angeblichen Defiziten autistischer Menschen anlasten.

Als sie über Lernprozesse und Machtbeziehungen im Kolonialismus schrieb, beobachtete die Anthropologin Mary Catherine Bateson, dass „Menschen, die keine Schuhe tragen, die Sprache der Menschen lernen, die Schuhe tragen, nicht andersherum.“

Batesons Formulierung dieser Einsicht stößt besonders in der autistischen Community auf Resonanz: Wenn autistische Aktivist*innen sich gegen die Pathologisierung von und Gewalt gegen autistische Kinder durch neurotypische Eltern und Fachkräfte aussprechen, oder gegen die Morde an autistischen Kindern durch neurotypische Eltern, dann versuchen neurotypische Menschen uns oft zum Schweigen zu bringen, indem wir herablassend ermahnt werden, uns in die Lage der Täter zu versetzen, „in ihren Schuhen zu laufen“. Doch wie es Neurodiversitätsaktivist*in Kassiane Asasumasu aufgezeigt hat, versuchen dieselben neurotypischen Eltern und Fachkräfte nicht nur nie ernsthaft in den Schuhen autistischer Menschen zu laufen, sie erkennen nicht einmal an, „dass wir Schuhe haben“, metaphorisch gesprochen.

Macht – oder Privilegien, wie wir nun gewöhnlich diese bestimmte Art der Macht nennen, auf die Karl Deutsch sich bezog – ist die Wahlfreiheit, nichts hinzulernen zu müssen. Es gibt den Satz „überprüfe deine Privilegien“ („check your privilege“), der häufig wiederholt wird, doch selten verstanden oder befolgt wird von den privilegierten Personen, an die er sich richtet. Ausgehend von Deutschs Definition von Macht oder Privilegien als die Wahlfreiheit, nicht hinzulernen zu müssen, kann die Bedeutung von „check your privilege“ zumindest teilweise bedeuten: „Lerne! Sei still, aufmerksam, und lerne. Lerne, auch wenn der Lernprozess und die dafür notwendige außerordentliche Demut unbequem sein werden. Lerne, auch wenn diese Art von Lernen und Demut eine Unbequemlichkeit ist, der du aufgrund deiner Privilegien luxuriöserweise aus dem Weg gehen kannst – ein Luxus, den wir nicht hatten, als wir unseren Weg finden mussten. Lerne, auch wenn du nicht musst.“

Leider werden die meisten privilegierten Gruppen das nicht tun, wie Angehörige aller unterdrückten Gruppen feststellen. Die Zustände außerordentlicher Bewusstheit, Demut, Offenheit gegenüber Korrektur und Aushalten von Unsicherheit, die für solch ein Lernen notwendig sind, liegen zu weit außerhalb der Komfortzonen der meisten Menschen. Die meisten Menschen werden schlicht ihre Komfortzonen nicht weit verlassen, wenn sie nicht müssen. Und privilegiert zu sein bedeutet, dass sie es nicht müssen.

Das System ist momentan so aufgebaut, dass neurotypische Fachkräfte, wenn sie mit autistischen Personen arbeiten, immer in der Rolle größerer Autorität sind: neurotypische Therapeut*inen und autistische Klient*innen; neurotypische Ärzt*innen und autistische Patient*innen; neurotypische Lehrkräfte und autistische Schüler*innen; neurotypische Forscher*innen und autistische Subjekte.

Solange das der Fall ist, solange neurotypische Fachkräfte regelmäßigen, engen Kontakt mit autistischen Individuen nur in Situationen haben, in denen die neurotypischen Fachkräfte mehr Autorität und Macht haben, müssen die neurotypischen Fachkräfte sich nie der unbequemen Demut aussetzen, ihre Privilegien zu überprüfen, müssen nie echte Empathie und Verständnis für Autist*innen entwickeln und müssen nie lernen, autistische Kommunikationsweisen zu verstehen und sich ihnen anzupassen.

Und wenn sie es nicht müssen, werden es die meisten auch nicht tun.

Einbezogen werden sollte auch, dass die Perspektive einer Person unausweichlich davon beeinflusst wird, wenn ihre gesamten Erfahrungen einer unterdrückten Gruppe aus Situationen besteht, in denen Angehörige dieser Gruppe in „unterlegenen“ Rollen sind. Schaut euch nur die Standford Gefängnisexperimente an, um einen Einblick zu bekommen, wie schnell und mächtig dieser Effekt seine Wirkung entfalten kann.

Wenn ihr dieses Phänomen versteht, wird es euch nicht überraschen, dass meiner Erfahrung nach gerade diejenigen am wenigsten Empathie für autistische Menschen haben, die geringste Fähigkeit, respektvoll mit autistischen Menschen zu kommunizieren und die geringste aufrichtige Offenheit, von autistischen Menschen zu lernen, die als neurotypische Fachkräfte schon über ihre gesamte berufliche Laufbahn mit autistischen Menschen gearbeitet haben, in Settings, in denen die Fachkraft stets die Autorität innehatte und die autistische Person stets in der Rolle Patient*in, Schüler*in, Forschungssubjekt oder „Leistungsempfänger*in“ war.

Es ist beinahe unmöglich für solche Fachkräfte, den Wechsel zum Neurodiversitätsparadigma zu vollziehen, zu lernen, ihre neurotypischen Privilegien zu überprüfen, oder anzufangen, respektvoll autistischen Perspektiven zuzuhören und von ihnen zu lernen. Sie haben sich einfach zu sehr in der Gewohnheit verschanzt, autistische Personen nicht als gleichwertig zu sehen.

Was ist also meine Antwort auf die Frage, wie wir Empathiedefiziten und mangelhaften Kommunikationsfähigkeiten bei neurotypischen Menschen begegnen sollten, die mit autistischen Menschen arbeiten? Verändere das System, so dass keine neurotypische Fachkraft mit autistischen Menschen arbeiten darf, solange die folgenden Bedingungen nicht erfüllt sind:

  1. Die neurotypische Fachkraft muss umfassend durch autistische Lehrkräfte ausgebildet worden sein, anhand eines von autistischen Expert*innen entworfenen oder genehmigten Lehrplans. Besagte autistische Lehrkräfte und Expert*innen müssen ihrerseits kompetent im Neurodiversitätsparadigma sein – sowie in den Gebieten der kritischen und Befreiungstheorie(n) wie Kritische Psychologie, Befreiungspsychologie, Disability Studies, Critical Autism Studies und Queer Studies – anstatt zahme Quotenautist*innen (wie Temple Grandin), die selbst die Sprache des Pathologieparadigmas und den Ableismus der vorherrschenden Kultur internalisiert und akzeptiert haben.

  2. Die neurotypische Fachkraft muss eine Lizenz zur Arbeit mit autistischen Menschen haben, erteilt durch ein Lizenzgremium, das hauptsächlich aus Autist*innen mit Kompetenz im Neurodiversitätsparadigma besteht.

  3. Die Arbeit der neurotypischen Fachkraft benötigt Supervision, Input und Überprüfung durch autistische Vertreter*innen des zuvorgenannten Lizenzgremiums, die dem Gremium Empfehlungen aussprechen können bezüglich des Lizenzstatus der neurotypischen Fachkraft.

Natürlich wird vermutlich keiner dieser Vorschläge in unserer gegenwärtigen Gesellschaft umgesetzt werden. Es ist jedoch eine Lösung zu den in eurer Frage genannten Problemen – eine der einzigen Lösungen dieser Probleme, die tatsächlich funktionieren würde, würde sie umgesetzt werden. Und auch wenn solche Lösungen schwer erreichbar scheinen, müssen wir es wagen, zu träumen.

Frage: Welchen Rat und/oder Vorschläge kannst du Psychotherapeut*innen geben, die mit autistischen Klient*innen arbeiten?

Überprüfe deine Privilegien.

Leere dein Glas, wie die Zen-Buddhist*innen sagen.

Vollziehe den Wechsel zum Neurodiversitätsparadigma, vollständig. Wirf alles Gelernte weg, was auf irgendeine Art und Weise auf dem Pathologieparadigma basiert, all die Botschaften über Autismus, die dir die vorherrschende Kultur eingeflößt hat. Du brauchst wild entschlossene, andauernde Disziplin hierfür: soziokulturelle Programmierung ist ein immerfort andauernder Vorgang, demzufolge muss das Aufbrechen deiner soziokulturellen Programmierung auch ein immerfort andauernder Vorgang sein; und du wirst gegen den Strom schwimmen. Es ist schwieriger für Angehörige der privilegierten Gruppen als für Angehörige der unterdrückten Gruppen: der Status Quo begünstigt dich, macht dich zur Autorität und belässt dich in deiner Komfortzone, es braucht also enorme Beharrlichkeit, um sich des heimtückischen und allgegenwärtigen Einflusses des vorherrschenden Paradigmas bewusst zu bleiben und sich dagegenzustellen.

Die Werkzeuge der Herrschenden werden nie das Haus der Herrschenden zerlegen, doch die Werkzeuge der Herrschenden wegzuwerfen ist schwer – und es ist zehnmal schwerer, wenn du innerhalb des momentanen Status Quo eine*r der Herrschenden bist.

Du musst erkennen, dass beinahe alles, was neurotypische „Expert*innen“ über Neurodivergenz geschrieben und unterrichtet haben, einfach nur falsch ist und deinen autistischen Klient*innen schadet. Die Stereotype der vorherrschenden Kultur über jegliche unterdrückte Gruppe sind nicht deswegen wahrer, nur weil du sie in einem Fachbuch oder in einem Fachartikel liest. Denke daran, dass Unmengen an Textmaterial in der Vergangenheit von „Expert*innen“ veröffentlicht wurde – Psycholog*innen eingeschlossen, das sexistische und rassistische Stereotype unter dem Deckmantel von „Wissenschaft“ beförderte.

Du musst erkennen, dass Autor*innen, Lehrkräfte, Forscher*innen oder andere „Expert*innen“, die Autismus zum Beispiel als „Störung“ bezeichnen, keine vertrauenswürdigeren, unvoreingenommeneren, „objektiveren“ Autoritäten sind als „Expert*innen“, die Homosexualität als „Störung“ bezeichnen, oder als die „Expert*innen“, die nicht-weiße Menschen als „Wilde“ beschrieben.

Du musst erkennen, dass du ein gesellschaftliches Paradigma verstärkst, das deinen Klient*innen schadet, wenn du die Sprache des Pathologieparadigms verwendest, und somit gegen die Interessen deiner Klient*innen arbeitest.

Gehe zu autistischen Lehrkräften, Supervisor*innen und Berater*innen, die fachlich versiert sind im Neurodiversitätsparadigma. Und bezahle sie für ihre Arbeit. Es ist beachtlich, wie viele neurotypische Fachkräfte und Organisationen gerne neurotypische „Expert*innen“ bezahlen, um über autistische Menschen zu reden, doch sich scheuen, die gleichen Raten für die schwerer erarbeitete Expertise tatsächlicher Autist*innen zu zahlen.

Höre autistischen Menschen zu und lies, was wir schreiben. Lies autistische Gelehrte und Aktivist*innen wie Remi Yergeau, Kassiane Asasumasu, Amy Sequenyia und mich. Lies das Buch Authoring Autism und den Artikel Clinically Significant Disturbance von Yergeau. Lies Supporting Transgender Autistic Youth and Adults von Finn V. Gratton. Lies Defiant von Michael Scott Monje. Lies neuroqueere speculative Belletristik von autistischen Autor*innen wie Dora M. Raymaker und Ada Hoffmann.

Versuche nie, deine Klient*innen von ihrem Autistischsein zu heilen. Wenn du eine*n autistische*n Klient*in hast mit Angststörung und Depression, dann denke daran, dass es deine Aufgabe ist, die Angststörung und Depression zu behandeln und nicht den Autismus.

Fachkräfte, die wirklich das Neurodiversitätsparadigma verstehen, würden genauso wenig versuchen, den Autismus ihrer Klient*innen zu „behandeln“, wie sie versuchen würden, die Homosexualität ihrer Klient*innen zu „behandeln“, oder die Angehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit.

Mache dich vertraut mit dem Gebiet der Befreiungspsychologie und sei dir stets bewusst, dass viele der psychologischen Themen, mit denen deine autistischen Klient*innen zu kämpfen haben, durch gesellschaftliche Ungerechtigkeit und Unterdrückung verursacht wurden und nicht durch die Eigenschaften der Klient*innen. Denke daran, dass ein guter Behandlungsplan höchstwahrscheinlich beinhaltet, den Klient*innen zu helfen, diese Tatsache zu erkennen – ihnen zu helfen, zu verstehen, dass ihre eigene Unterdrückung, sowohl außen als auch verinnerlicht, ein Hauptgrund ihres Leidens ist.

Tatsächlich solltest du daran denken, dass deine Klient*innen womöglich vollständig das Pathologieparadigma akzeptiert haben und dem Neurodiversitätsparadigma gegenüber unwissend sein könnten oder sich dagegen sogar dagegen wehren. In diesem Fall könnte es deine Pflicht als Therapeut*in sein, deinen Klient*innen das Neurodiversitätsparadigma näherzubringen, um ihr psychologisches Wohlbefinden und ihre Befreiung zu unterstützen, und sie aufzuklären, indem du sie an Texte wie die obengenannten weiterverweist.

Doch in erster Linie: Überprüfe deine Privilegien.

Frage: Welche Rolle spielt deine Ausbildung im somatischen Bereich (sowohl als therapeutische Richtung als auch dein Aikido-Hintergrund) für deine Arbeit in der Neurodiversitätsbewegung?

Ich sehe kognitive Freiheit als einen zentralen Wert der Neurodiversitätsbewegung.

Der Begriff kognitive Freiheit wurde von Wrye Sententia und Richard Glen Boire geprägt, den Gründer*innen des Center for Cognitive Liberty and Ethics. Kognitive Freiheit als ethischer Wert lässt sich auf die Idee herunterbrechen, dass Individuen das Recht auf absolute Hoheit über ihre eigenen Gehirne und ihre eigenen Denkprozesse haben. Vertreter*innen der kognitiven Freiheit brechen diesen Gedanken häufig auf zwei grundlegende ethische Leitprinzipien herunter (ursprünglich inspiriert durch die zwei „Gebote“, die Timothy Leary in The Politics of Ecstasy vorgelegt hat):

  1. Individuen haben ein Recht darauf, dass nicht an ihren Gehirnen und Denkprozessen ohne Konsens herumgedoktert wird.
  2. Individuen haben das Recht, an ihren eigenen Gehirnen und Denkprozessen rumzudoktern oder freiwillig daran rumdoktern zu lassen, auf welche Art auch immer sie möchten.

Diejenigen von uns, die tief verbunden sind mit transformativen Körperübungen oder dem Gebiet der Somatischen Psychologie, verstehen, dass die Psyche somatisch (=körperlich) organisiert ist, was bedeutet, dass die jeweiligen neurokognitiven Prozesse jeder einzelnen Person eng verknüpft sind mit dem Bewegungsstil und der Verkörperung dieser Person. Veränderungen der Bewegung und Verkörperung erschaffen Veränderung im Denken.

Demzufolge bedeutet ein Herumdoktern am einzigartigen Bewegungs- und Verkörperungsstil einer Person (zum Beispiel durch die behavioristischen Techniken, die häufig verwendet werden, damit autistische Kinder ihre äußerlichen Autismusmerkmale unterdrücken) ein Herumdoktern am Denken dieser Person und verletzt somit ihre kognitive Freiheit.

In anderen Worten: Freiheit in der Verkörperung – das heißt, die Freiheit, sich jeglichen Bewegungs- und Verkörperungsstilen und -eigenheiten hinzugeben, sie zu übernehmen und/oder damit zu experimentieren, ob sie natürlicherweise kommen oder bewusst gewählt werden – ist ein essentielles Element der kognitiven Freiheit und von daher ein zentraler Schwerpunkt der Neurodiversitätsbewegung. Die Freiheit, autistisch zu sein, beinhaltet notwendigerweise die Freiheit, seiner*ihrer Neurodivergenz einen körperlichen Ausdruck zu geben.

Für körperorientierte Psychotherapeut*innen ist eine wichtige Schlussfolgerung daraus, dass autistische Klient*innen oft unbewusste gewohnheitsmäßige Anspannungen erworben haben (die Wilhelm Reich Charakterrüstung nannte), die sie daran hindern, den Bewegungsstil vollständig auszudrücken, der für sie natürlich und optimal ist. Diese Anspannungen werden tendenziell besonders stark und tiefverwurzelt bei Klient*innen sein, die in der Kindheit häufig beschämt wurden oder anderweitig Gewalt erfahren haben für ihren körperlichen Ausdruck ihrer Neurodivergenz, oder bei denjenigen, die behavioristischen „Therapien“ oder anderen Formen erzwungener körperlicher Angepasstheit ausgesetzt waren.

Eine Integration des Neurodiversitätsparadigmas in das Feld der Somatischen Psychologie würde eine Anerkennung dieser angewöhnten Anspannungen als körperliche Manifestationen verinnerlichter Unterdrückung beinhalten. Es erscheint mit so, dass körperorientierte Psychotherapeut*innen, sobald sie sich dem Neurodiversitätsparadigma verschreiben haben, einzigartig qualifiziert sind, um autistischen Klient*innen bei deren Aufgabe zu unterstützen, sich von den Fesseln solcher Anspannungen zu befreien und somit ihre Kapazität, ihrem einzigartigen Potenzial vollen Ausdruck zu geben, zu heilen.

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