Mein roter Faden heißt ADHS - Interview mit einer spätdiagnostizierten ADHSlerin

 Von Gewitterwolke und S.




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Gewitterwolke: Magst du dich einmal kurz vorstellen? Was bestimmt gerade dein Leben und welche Neurodivergenzen spielen bei dir eine Rolle?

S.: Ich bin eine Frau Ende 30 und lebe mit meinem Mann und meinen beiden Kindern in Süddeutschland. Meine Geschichte betrifft auch in vielen Aspekten unser Familienleben, weswegen ich hier anonym schreibe, um die Privatsphäre meiner Familie zu schützen.

Meine Kinder sind noch relativ jung, weswegen mein Alltag von viel Care-Arbeit, ein wenig Lohnarbeit als Angestellte und meiner kleinen Selbständigkeit bestimmt wird. Mein Partner hat eine chronische Erkrankung und gerade eine schwere Episode, was unser Leben im Moment sehr beeinflusst.

Ich bin spätdiagnostiziert mit ADHS. Ursprünglich wurden bei mir rezidivierende (in Abständen wiederkehrende) Depressionen festgestellt, die mich bereits mein ganzes Leben begleiten. Die Behandlung brachte über die Jahre nicht den zu erwartenden Erfolg, weswegen dann eine weiterführende Diagnostik gemacht wurde.

Mittlerweile weiß ich, dass die Depressionen höchstwahrscheinlich durch die unerkannte und damit unbehandelte ADHS verursacht wurden.

Die ADHS-Diagnostik ist noch kein Jahr her. Seit kurzem werde ich außerdem medikamentös eingestellt.

 

Gewitterwolke: Wie bist du darauf gekommen, dass ADHS bei dir eine Rolle spielt? Was war ausschlaggebend für dich, eine Diagnostik anzustreben?

S.: Bis ich auf das Thema ADHS im Erwachsenenalter aufmerksam wurde und angefangen habe, mich einzulesen und bei Fachleuten und Betroffenenverbänden zu informieren, bin ich gängigen Klischees aufgesessen. Zappelphilip-Syndrom, Kinderkrankheit, Erfindung der Pharmaindustrie, um wilde Kinder zu bändigen… es sind ja die wildesten Meinungen und Fehlinformationen darüber im Umlauf.

Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen ich könne ADHS haben, bis mich eine befreundete Psychotherapeutin vor mehreren Jahren darauf angesprochen hat, dass sie einige meiner Verhaltensweisen und Probleme als ADHS-Symptome einordnen könnte. Ich habe das zu dem Zeitpunkt noch nicht wirklich ernst genommen.

Danach ist mir das Thema immer wieder begegnet, und ich hatte immer mehr das Gefühl, dass da was dran sein könnte. Z.B. hat eine Person auf Instagram in ihren Storys erzählt, dass sie sich am Vortag verletzt hat. Die Art und Weise, wie das passiert ist, war völlig surreal und eine Kombination aus Schusseligkeit, Pech und Selbstüberschätzung und jede Menge Unaufmerksamkeit. Und ich habe mich so wiedererkannt. Die Person hat dann auch erklärt, dass ihr so etwas wegen der ADHS öfter passiert. Und da war das Thema schon wieder. Wir haben uns dann per Nachrichten ausgetauscht und ich wurde immer nachdenklicher. Zum ersten Mal hatte ich von einer erwachsenen ADHSlerin Informationen aus erster Hand. Ich habe mich so gesehen und verstanden gefühlt.

Gleichzeitig hatte ich Gedanken wie „du suchst doch nur Ausreden für deine Macken“ und so weiter.

Es hat dann nochmal einige Zeit gedauert, bis ich tatsächlich angefangen habe, meinem Verdacht ernsthaft nachzugehen. Zuerst habe ich meine Psychotherapeutin darauf angesprochen. Sie hat allerdings meine Symptome anders eingeordnet und eher eine Hochbegabung in Kombination mit den Depressionen als Ursache gesehen. Danach habe ich nochmal eine Weile gebraucht, mich trotzdem um die Diagnostik zu bemühen. Es hat einfach so vieles gepasst, und der Leidensdruck wurde immer größer. Mein zweites Kind wurde geboren, ich war danach völlig überfordert mit meinen Anforderungen als Mutter und Partnerin, was meine Symptome verstärkt hat, meine Depressionen haben sich massiv verschlechtert bis hin zu Suizidgedanken, Antidepressiva und meine Psychotherapie haben nicht mehr geholfen, da hab ich die Diagnostik als letzten Strohhalm gesehen.

 

Gewitterwolke:  ADHS ist ja auch ein Spektrum. Welche ADHS-Merkmale sind bei dir besonders ausgeprägt und hast du jeweils ein kleines Beispiel, wie das dann im Alltag für dich aussieht?

S.: Die ADHS wirkt sich auf fast alle Bereiche meines Alltags aus. Ich muss quasi non-stop „gegenlenken“ und meine Symptome ausgleichen. Das kostet viel Energie, die ich ohne die Verantwortung für die Kinder noch gut aufbringen konnte.

Mit der Elternrolle kamen viele neue Aufgaben dazu und gleichzeitig fiel ein Großteil meiner Strategien zum Wiederaufladen weg. Das hat sich beim zweiten Kind noch stärker bemerkbar gemacht, weil da noch die Pandemie mit obendrauf kam.

Meine ADHS-Symptome sehen heute z.B. so aus:

Vergesslichkeit macht sich bei mir nicht so stark bemerkbar, weil ich sehr viele Reminder, Kalender und Erinnerungen benutze. Ich habe im Laufe der Jahre ein großes Organisationstalent entwickelt und bin meistens überpünktlich. Gleichzeitig bin ich von meinen Hilfsmitteln sehr abhängig.

Hyperaktivität äußert sich bei mir hauptsächlich durch innere Unruhe, Gedankenkarussell oder durch sehr viel Reden und weniger durch das klassische Zappeln.

Die Unaufmerksamkeit äußert sich bei mir oft dadurch, dass ich schnell abgelenkt werde, das ist eng verknüpft mit meiner stark ausgeprägten Impulsivität.

Z.B. kann es passieren dass ich morgens schnell im Schulmanager checken will, ob eine Schulstunde ausfällt, dann beim Entsperren des Handys sehe, dass ich eine Benachrichtigung bei WhatsApp habe, dann dort eine Frage lese, um die zu beantworten ich fix im Safari was nachlesen will, bei den Google-Ergebnissen auf eine Werbeanzeige für Vesperdosen stoße, weswegen mir einfällt dass ich noch die Brotzeitboxen der Kinder in die Taschen packen muss und den Kühlschrank öffne, um sie herauszuholen, dabei bemerke, dass das Apfelmusglas vom Pfannkuchen essen am Vortag gegessen werden muss und dann anfange Müsli zu machen.

Sowas kann sich durch den kompletten Tag ziehen und führt oft zu Chaos, aber auch zu Lachern, wenn dann plötzlich das Handy im Kühlschrank auftaucht oder das Apfelmusglas im Eingang steht, weil ich’s statt der Brotdosen in den Schulranzen packen wollte.

Ich bin auch oft mit den Gedanken woanders und renne dann irgendwo dagegen, werfe Dinge um oder klemme mir was ein. Ich habe mich schon oft aus Unachtsamkeit verletzt oder beim Autofahren riskante Situationen verursacht.

Emotionale Dysregulation ist das Symptom, was für mich und mein Umfeld am anstrengendsten ist. Ich habe häufig starke Stimmungsschwankungen und emotionale Ausbrüche. Vor allem auf Zurückweisungen reagiere ich hypersensibel, und in Kombination mit der Impulsivität führt das oft zu Problemen in der Kommunikation. Deswegen bevorzuge ich geschriebene Kommunikationsmittel.

Außerdem habe ich eine Reizfilterschwäche.

Starke Gerüche, viele Geräuschquellen, (zu leichte) Berührungen oder zu langer Körperkontakt überlasten mich schnell. Dann kann der kleinste Auslöser zu Meltdowns führen.

Zur Unaufmerksamkeit gehört z.B. auch noch, dass ich Probleme habe, auditive Informationen zu verarbeiten. Ich kann z.B. viele Podcasts oder Hörbücher nicht hören, ich kann mich nicht lange genug auf die Worte konzentrieren, um der Handlung zu folgen. Ich mag keine Sprachnachrichten, weil ich sie mehrmals anhören muss, um den Inhalt vollständig zu erfassen und mir Notizen zu machen. Mündliche Anweisungen muss ich immer protokollieren, um nichts durcheinanderzubringen oder zu vergessen.

Gewitterwolke: Inwieweit hat sich deine Neurodivergenz (unbekannterweise) auf deinen Bildungsweg und deine berufliche Karriere ausgewirkt?

S.: In der Schulzeit hatte ich vor allem soziale Schwierigkeiten. Ich konnte mich schlecht einfügen, galt als Außenseiterin und wurde auch viel gehänselt und später auch gemobbt. Nichtsdestotrotz waren meine Noten gut, ich habe mit 17 die Fachhochschulreife gemacht und danach eine Ausbildung.

Ab da könnte man meinen Werdegang als turbulent bezeichnen. Die Ausbildung hätte ich fast abgebrochen, weil ich Probleme mit dem Chef hatte, wurde nicht übernommen, hatte danach viele Jobs, hab ein Studium angefangen und wieder abgebrochen, und es war finanziell oft schwierig. Außerdem war ich mit Alltagsaufgaben überfordert, meine Wohnungen waren immer unordentlich, teilweise bis hin zu Messie-ähnlichen Zuständen.
Ich habe sehr darunter gelitten, dass ich mein Leben nicht in den Griff bekommen habe. Dass ich so unorganisiert war, mich als Versagerin gefühlt habe, obwohl immer betont wurde, wie klug ich sei. Das war das Schlimmste. Ich konnte nie verstehen, wie es sein kann, dass ich in bestimmten Bereichen herausragende Leistung bringen, die aber nicht auf andere Bereiche übertragen kann.
Und ich habe nie verstanden wo die bleierne Schwere und lähmenden Gedanken manchmal herkamen. Heute weiß ich, was exekutive Dysfunktion ist.

Ich hatte mit Ende 20 das Glück, einen Arbeitgeber zu finden, bei dem ich eine für mich perfekte Stelle bekommen habe. Wechselnde Aufgaben, ständig neue Herausforderungen, Strukturen, innerhalb derer ich mich frei entfalten konnte, ein tolles Team…hier sind meine ADHS-Traits häufiger Stärke als Schwäche.
Ich muss nur aufpassen, dass mich mein Perfektionismus nicht zu sehr packt und ich in stressigen Zeiten Hilfe beim Priorisieren meiner Aufgaben habe. Und ich habe gelernt, dass ich Co-Worker brauche, wenn ich mich dauerhaft im Job wohlfühlen will.

Seit meiner Diagnose habe ich für meinen Werdegang eine Erklärung, es ergibt alles ein stimmiges Bild. Mit dem Wissen, dass ich ADHS habe, kann ich leichter aufhören mich mit anderen zu vergleichen, ich achte besser auf meine Kapazitäten und Möglichkeiten und bin sanfter mit mir.

Gewitterwolke: Du nimmst ja seit kurzem ein ADHS-Medikament. Welche Veränderungen beobachtest du bei dir?

S.: Ich bin aktuell noch bei der Eindosierung und kann daher nur die ersten Eindrücke abschätzen. Ich habe das Glück, dass ich bereits das erste Stimulanz, das ich verschrieben bekommen habe, gut vertrage und auch darauf anspreche.

Ich bin entspannter und ruhiger, weniger hektisch und nervös und kann mich besser konzentrieren. Mir fällt es leichter präsent zu sein, ich bin geduldiger, vor allem im Umgang mit den Kindern, und körperliche Stresssymptome, wie angespannter Kiefer und hochgezogene Schultern, sind besser.

Nach 6 Wochen kann ich sagen, dass ich insgesamt viel mehr Energie habe und seltener erschöpft bin. Ich spüre meine Bedürfnisse besser, wodurch sich mein Ess- und Schlafverhalten verbessert haben. Ich hatte oft Essanfälle, wenn ich gestresst und/oder unterstimuliert war, das kommt kaum noch vor. Ich fühle mich richtig gut.

Gewitterwolke: Was sagst du der häufigen Kritik, dass ADHS-Medikamente nur ruhigstellen sollen?

S.: Wenn es darum ginge, dass ich z.B. meine Medikation oder auch Therapie etc. nur bräuchte, um in der Leistungsgesellschaft funktionieren zu können, weiß ich nicht, ob ich dazu bereit wäre. Ich komm halt von der komplett gegensätzlichen Richtung. Ich wurde erst letztes Jahr diagnostiziert. Ich habe als Kind autogenes Training und Kügelchen bekommen mit der Bemerkung, dass ich „halt ein schwieriges Temperament wäre“… ich habe jahrzehntelang Depressionen gehabt, so viel Ablehnung und Versagen erfahren.

Ich bin so gut darin geworden, mein Umfeld zu optimieren und mir gute Bedingungen zu schaffen, dass ich es zum Beruf gemacht habe, und trotzdem überfordert mich meine schiere Existenz so oft.

Ich bin absolut dagegen, Menschen gedankenlos Medikamente zu verschreiben, womöglich auch ohne gesicherte Diagnosen. Aber oft ermöglichen sie überhaupt erst, dass andere Bausteine einer Behandlung wirksam werden können.

Ich kann z.B. noch so viel Verhaltenstherapie machen und reflektieren und mein Umfeld aufklären; dass ich regelmäßig wegen meiner Impulsivität und Emotionalität explodiere oder gemeine Sachen sage, tut denen weh, und selbst das verständnisvollste Umfeld zermürbt daran. Mit der Medikation kann ich oft eine Millisekunde überlegen, bevor ich mit etwas unkontrolliert rausplatze. Das ist ein kleines Beispiel.

Gewitterwolke: Verstehst du ADHS als Neurotyp (also quasi angeborenes Betriebssystem) oder als Störung (wie es offiziell ja eingestuft ist) und warum?

S.: Beides. Erstmal ist es mein Neurotyp, und viele meiner Symptome bzw. in dem Fall Eigenschaften sehe ich nicht als pathologisch. Gleichzeitig empfinde ich es als Störung bzw. als Behinderung. Denn auch in einem idealen Umfeld (wenn das überhaupt gäbe) hätte ich durch die ADHS trotzdem noch Nachteile.

Gewitterwolke: Was schätzt du an deiner ADHS?

S.: Ich liebe meine Flexibilität und Begeisterungsfähigkeit. Ich kann mich blitzschnell auf neue Herausforderungen und Aufgaben einstellen und finde oft kreative Lösungen outside the Box. Ich sehe oft Zusammenhänge, die anderen länger oder ganz verborgen bleiben. Ich kann spontan einen 15-Minuten-Vortrag zum Brotbacken halten, oder zu anderen Themen, die mich mal gecatcht haben. Ich kann bis zur Unendlichkeit versinken in Themen/Büchern/Hobbies, und das kann sich wunderschön und erfüllend anfühlen. Ich habe eine unerschöpfliche Bibliothek an random facts in meinem Verstand. Wenn ich mich etwas oder jemandem verschreibe, dann mit allem was ich habe. Ich bin, wenn meine Ängste Pause machen, mutig und traue mir viel zu, ohne mich zu verkopfen.

Gewitterwolke: Zum Abschluss – gibt es etwas, das du Mitlesenden mitgeben möchtest, wenn sie sich in einigen deiner Beschreibungen wiedererkennen?

S.: Mit ADHS zu leben, Symptome auszugleichen oder zu maskieren kann unfassbar viel Kraft kosten.
Wir sollten nicht ständig Erwartungen oder Anforderungen gerecht werden müssen, die diesen Nachteil nicht berücksichtigen.
Wir brauchen sichere Räume und Menschen, bei denen wir uns nicht rechtfertigen müssen, in deren Beisein unsere Hilfsmittel nutzen können und nicht das Gefühl haben, „normal“ wirken zu müssen.

Vielen Dank für dieses Gespräch 🙂

Disclaimer von Gewitterwolke:

Ich habe S. bezüglich ihrer ADHS interviewt. Mir ist jedoch wichtig anzumerken, dass bei S. vermutlich auch noch andere, bisher nicht diagnostizierte Neurodivergenzen, eine Rolle spielen. Außerdem ist jedes ADHS-Erlebnis individuell, weil alle Menschen individuell sind und stets verschiedene Lebensaspekte intersektional zusammenwirken.

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