Autigender

Wie mein Bezug zu Gender und zu meiner eigenen Geschlechtlichkeit von meiner autistischen Art zu sein geprägt wird

Von Gewitterwolke

taken from lgbtqia.wiki

Seit mehreren Monaten, es könnte auch schon ein Jahr sein, versuche ich intensiv zu verstehen, was Gender ist. Was Menschen meinen, wenn sie sagen, dass sie ein Geschlecht fühlen. Ich habe mich in meinem Studium damit beschäftigt, in Hausarbeiten, Blogs, Foren, Instagram und Bücher gewälzt, um eine Erklärung zu bekommen. Was ist Geschlecht? Wie lassen sich Geschlechtsidentität, Körpermerkmale und geschlechtliche soziale Rollen voneinander abgrenzen? Inwiefern hängen sie zusammen? Warum gibt es keine allgemeingültigen Definitionen von Gender, die mir rational vermitteln können, was das eigentlich ist? Was ist mein Gender? Hab ich überhaupt ein Gender? Kann man überhaupt kein Gender haben? Haben nicht alle Menschen ein Gender?

Es war sicherlich kein Zufall, dass das Thema Gender meine Aufmerksamkeit auf sich zog, nachdem ich mich intensiv mit Neurodivergenz, hauptsächlich Autismus, auseinandergesetzt hatte. Die Erkenntnis, dass die meisten Menschen eine in wesentlichen Punkten andere Wahrnehmung und Denkweise haben als ich, öffnete Tor und Tür für das Anzweifeln anderer vermeintlicher Selbstverständlichkeiten — so wie die Annahme, dass ich eine Frau bin. Durch eine befreundete nichtbinäre Person hatte ich die Möglichkeit, einiger meiner Grundsatzfragen zum Thema Gender loszuwerden und Gedankenanstöße zu bekommen. Von da aus begann meine Recherche. Ein neues Spezialinteresse war geboren.

Besonders beschäftigte mich die Frage, ob ich cis war. Schließlich war ich im Großen und Ganzen zufrieden mit meinem Körper. Genderdysphorie konnte ich bei mir nicht feststellen, zumindest keine körperliche Dysphorie. Und, so dachte ich, wenn ich meinen Körper nicht hasse, v.a. seine Merkmale, die von der Gesellschaft in männlich und weiblich eingeteilt werden, dann muss ich ja wohl cis sein. Mittlerweile weiß ich, dass das nicht so pauschal stimmt. Geschlechtsdysphorie kann sehr stark und offensichtlich sein, sie kann auf den Körper bezogen sein oder auf eine soziale Rolle, sie kann uns nicht bewusst sein. Es ist auf jeden Fall komplex.

Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die mich aufgrund meines vermeintlichen Weiblichseins zum Glück nie wirklich anders behandelt hat. Deswegen habe ich kaum Implikationen aufgrund der Tatsache gespürt, dass ich mit einer Vulva geboren wurde. Meine Eltern haben mir keine klassische Rollenverteilung vorgelebt und ihre Identitäten als Mann und Frau haben in meinem Leben keine wirkliche Rolle gespielt. Erst als Teenager wurde das Thema präsent, weil sich meine Mitschüler*innen plötzlich extrem auf Gender und Sexualität fokussierten.

An diesem Punkt ist natürlich schwer festzustellen, welche Rolle mein Autismus und welche Rolle mein fehlender Bezug zu Weiblichkeit dabei spielte, dass ich in der Pubertät kaum Freundschaften schloss. Ich war irgendwie immer etwas außen vor. Manchmal wurde ich geduldet, manche Gleichaltrige mochten mich sicher auch, aber ich war nie wirklich Teil einer peer group, schon gar nicht einer girl group. Da hätte ich mir also auch nichts abschauen können. Es hat mich aber halt auch nicht interessiert. Ich kam nie auf die Idee, meine eigene Weiblichkeit zu entwickeln, in dem ich mir Dinge von Mädchen und Frauen abschaue. Ich hatte eben keinen Bezug zu Geschlecht. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Das erste Mal, dass ich wirklich massiv damit konfrontiert wurde, dass ich als Frau gelesen und behandelt werde, war im Dorf meines Mannes in Südostasien. Es gab klare Regeln und Rollenaufteilungen für Männer und Frauen und alle schienen sich damit wohlzufühlen. Das Ganze war religiös untermauert. Plötzlich durfte ich viele Dinge nicht, „weil ich eine Frau war“, und es wurden bestimmte Dinge von mir erwartet, „weil ich eine Frau war“. Das fühlt sich so extrem falsch und verletzend an. Am meisten schockierte mich, wie es niemanden zu stören schien. Ich wollte nicht, dass mein vermeintliches Geschlecht irgendeine Rolle dabei spielt, wie andere Menschen mit mir umgehen und welchen Platz ich gesellschaftlich einnehmen darf. Das ist für mich eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

Aber auch hier in Deutschland beobachte ich um mich herum oft, wie hauptsächlich heterosexuelle Paare in traditionellen Rollen leben und beide damit okay zu sein scheinen. Nur mit dem Patriarchat kann ich mir das nicht erklären. Rollen geben auch Sicherheit und Entlastung, wenn die Rolle zur eigenen Geschlechtsidentität passt. Das ist zumindest meine Vermutung.

Ich habe aber keine Geschlechtsidentität. Mein Körper, meine Geschlechtsmerkmale, meine Reproduktionsorgane, haben für mich absolut nichts damit zu tun, welche Rolle ich in Beziehungen, Familie und Gesellschaft einnehmen möchte. Es hat einfach keine Bedeutung für mich – außer dass es natürlich bestimmte Konsequenzen hat: ich kann schwanger werden, ich menstruiere, ich kann stillen, mein Hormonhaushalt basiert auf mehr Östrogen und Progesteron und weniger Testosteron, ich habe einen höheren Körperfettanteil, und solche Sachen. Aber diese ganzen Eigenschaften, die Frauen und Männern zugeschrieben werden, angeblich aufgrund ihres Körpers, mit denen kann ich absolut nichts anfangen: ich bin meinungsstark und gebe gern den Ton an, mag klare und knackige Kommunikation, hasse Small talk, unterhalte mich nur mit Menschen, wenn mich das Thema interessiert, kochen mag ich, Backen nicht so, das Zuhause schön und heimelig halten ist eine meiner schlimmsten Vorstellungen, und ich mag zwar Kinder, aber rund um die Uhr für sie zuständig sein, dafür bin ich nicht gemacht. Ich habe viele Eigenschaften, die Männern zugeschrieben werden, auch einige, die Frauen zugeschrieben werden, und ich bin weder noch. Denn wann bin ich ein Mann oder eine Frau? Wenn ich sagen kann „ich bin ein Mann“ oder „ich bin eine Frau“ und sich das stimmig anfühlt, oder? Es soll ein inneres Wissen über sein eigenes Geschlecht geben. Ich weiß nur, dass für mich Geschlecht keinen Sinn macht. Und ich damit nichts zu tun haben will – schreibt mir bitte kein Geschlecht zu, es ist total irrelevant für mich. Was meine Identität ausmacht, was mich ausmacht, hat mich Weiblichkeit oder Männlichkeit nichts zu tun. Und das fällt letztlich unter die Definition von Agender.

Und was hat das nun mit meinem Autistischsein zu tun? Ich kann natürlich nur mutmaßen. Aber diese ganzen Eigenschaften von mir, die nicht zu den klassischen weiblichen Eigenschaften passen: das sind zufällig auch autistische Eigenschaften. Es gibt aber auch autistische Frauen, nicht wenige sogar. Es ist etwas sehr persönliches, welche Geschlechtsidentität sich für jemanden stimmig anfühlt. Und viele Menschen setzen sich damit nie auseinander.

Autismus und Gender hat aber somit etwas miteinander zu tun, als Gender eine soziale Kategorie ist, sich auf Geschlechterrollen und die Gesellschaft bezieht, somit in Teilen sozial konstruiert ist und auf in gewisser Weise willkürlichen Normen basiert. Autistische Menschen haben in der Regel keine Präferenz für gesellschaftliche Normen, die nicht logisch sind. Warum sollte ich mich an etwas orientieren, was für mich keinen Sinn ergibt?

Neurotypische Menschen kommen mit eine Orientierung zur Gruppe zur Welt. Sie verstehen sich stets im Bezug zur Umwelt, zu anderen Menschen. Sie definieren sich in Bezug zu anderen Menschen. Gruppenzugehörigkeit ist oft der Kern von neurotypischer Identität. Bei autistischen Menschen, und auch bei vielen anderweitig neurodivergenten Menschen, funktioniert das oft anders.

Es kann also sein (und mir ist bewusst, dass viele andere Menschen diesen Gedanken auch schon hatten), dass autistische Menschen gar nicht unbedingt häufiger trans bzw. nicht cis sind, aber dass sie es sich häufiger eingestehen, weil sie sowieso ständig soziale Normen hinterfragen, die keinen Sinn für sie ergeben. Und weil die Vorstellung, nicht „normal“ zu sein, nicht so eine große Bedrohung ist, wenn du sowieso dein Leben lang nicht reingepasst hast.

Genauso kann aber auch die Performance des zugewiesenen Geschlechts Teil der Maske sein und großen Schutz bieten.

Mein Punkt ist: Neurodivergenz und Gender kann stark miteinander verwoben sein. Und wer für sich feststellt, dass das bei ihr*ihm so ist, da könnten Begriffe wie Autigender (oder andere Neurogender) ein Begriff sein, um diese Erfahrung in ein Wort zu verpacken.


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